Neuigkeit zur Petition
Ich habe mein Leben verloren
17. Sep. 2019 —
„Wissen Sie, Frau Katja, alles, was ich im Leben gelernt habe, ist zu fliehen.
Wissen Sie, ich kann hier jeden Moment getötet werden. Haben Sie von dem Anschlag in dascht barchi letzte Woche gehört, ich kann da nicht hin, da ist es für mich (Hazara) zu gefährlich. Ich bin jetzt bei einem Freund in einer heruntergekommenen Hütte, auch da habe ich Angst, obwohl niemand einen Anschlag auf so eine Hütte macht.
Wissen Sie, Frau Katja, (in Deutschland, in Abschiebehaft) haben sie mich mit all den Menschen in ein Zimmer getan, vor denen ich immer Angst hatte: Menschen, die 6 kg Drogen verkauft haben und Menschen, die einen anderen getötet haben. Die Polizei hat mich behandelt, wie einen Schwerverbrecher. In meinem Leben habe ich nichts verbrochen.
Drei Wochen hat man mir versprochen, mir zu helfen, am Ende hat man mir eine Karte von Amaso in die Hand gedrückt.
Was soll ich machen, wenn ich kein Geld mehr habe?
Ich habe mein Leben verloren.
Ich habe alles versucht, in Deutschland ein Leben zu haben und am Ende habe ich in Deutschland zum ersten Mal in meinem Leben Handschellen gesehen, ich habe nie gedacht, dass ich in Deutschland Handschellen sehen würde….“
Das sagte K. seiner Münchner Helferin am Telefon, einige Wochen nachdem er mit dem vorletzten Abschiebecharter nach Kabul verfrachtet worden war. Zuvor war er im Abschiebegefängnis Eichstätt eingesperrt.
Auch jetzt sind wieder junge Afghanen dort in Abschiebehaft. Aber laut Haftantrag werden sie länger auf ihren Flug warten als sonst: Erst Ende Oktober scheint der nächste Charter nach Kabul bestellt zu sein. Keine Abschiebung im September also, soweit wir wissen.
Eigentlich eine gute Nachricht – eine kleine Atempause im Abschiebemarathon. Ob das organisatorische oder politische Gründe hat, ist schwer zu sagen Ganz sicher hat es nichts mit der aktuellen Anschlagsserie der Taleban in Kabul zu tun, die immerhin zum Rückzug der Bundespolizei aus Afghanistan führte:
Kurz nach meinem letzten Update wurde ein massiver Angriff der Taleban am 2.9. auf das streng abgeschirmte „Green Village“ in Kabul bekannt, wo viele Ausländer leben, darunter auch deutsche Bundespolizisten und Entwicklungshelfer.
https://www.n-tv.de/politik/Autobombe-toetet-5-Menschen-und-verletzt-50-article21247683.html
Die Autobombe am Eingang kostete außerhalb des Lagers mindestens 30 Menschen das Leben, bei Gefechten wurden fünf Sicherheitskräfte im Lager ebenso wie die vier Angreifer getötet.
Am 5.9. starben mindestens 12 Menschen bei einem Sprengstoffanschlag auf einen Kontrollposten in unmittelbarer Nähe von Einrichtungen des Geheimdienstes und des NATO-Hauptquartiers. Mindestens 42 wurden verletzt. Unter den Toten waren auch ein rumänischer und ein US-amerikanischer Soldat, die an der von den USA geführten Nato-Mission teilnahmen.
https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/afghanistan-anschlag-kabul-taliban-explosion-tote
Genau am 18. Jahrestag von „Nine-Eleven“, den verheerenden Anschlägen in New York und Washington, wurden die US-Botschaft und das Verteidigungsministerium in Kabul von Raketen getroffen.
https://www.tagesschau.de/ausland/anschlag-kabul-139.html
Und heute, am 17.9., kosten zwei weitere Anschläge der Taleban in Kabul und in der Provinz Parwan mindestens 48 Menschen das Leben, viele von ihnen Zivilisten.
https://www.tagesschau.de/ausland/afghanistan-anschlaege-103.html
Schon Ende August musste in Kabul einer der verheerendsten Selbstmordanschläge der letzten Jahre verzeichnet werden. Ein IS-Terrorist zündete seine Sprengstoffweste auf einer Hochzeitsgesellschaft und tötete 63 Menschen, darunter viele Kinder, 182 weitere Gäste wurden verletzt.
Leider ist diese Aufzählung von tödlichen Anschlägen mit Sicherheit unvollständig, ebenso wie diese wikipedia-Liste: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Terroranschl%C3%A4gen_in_Afghanistan#2019
Die BBC zählte im August diesen Jahres 74 Todesopfer in Afghanistan – pro Tag. 2.307 insgesamt, ein Fünftel von ihnen zivile Opfer. Aktuell ist der seit vier Jahrzehnten andauernde Konflikt der tödlichste in der Welt.
„Nach dem vorläufigen Stopp der Ausbildungsmission der Bundespolizei in Afghanistan fordern die Grünen, keine Migranten mehr in das Land abzuschieben. ‚Selbst nach Ermessen der Bundesregierung ist die Sicherheitslage in Afghanistan zu prekär, um die deutsche Botschaft zu besetzen und nun den Einsatz der Bundespolizei fortzusetzen. Abschiebungen spätestens jetzt nicht umgehend zu stoppen, ist zynisch und inakzeptabel‘, sagte der außenpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Omid Nouripour, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
Unionsfraktionsvize Johann Wadephul (CDU) lehnte dies jedoch ab. ‚Es gibt nach wie vor verfolgungsfreie Gebiete‘, sagte er dem RND. ‚Wir schieben nur nach genauer Prüfung ab.‘ Eine Neubewertung sei nicht nötig.“
Ergänzen möchte ich, dass die Grünen ihre Forderung teilweise selbst erfüllen könnten, wenn kein Bundesland mit grüner Regierungsbeteiligung mehr nach Afghanistan abschieben würde! Über die CDU gibt es nichts zu sagen, das Rezo nicht schon gesagt hätte…
Aus Österreich wurden am 3. September wieder afghanische Geflüchtete abgeschoben – nur mit massivem Druck konnte verhindert werden, dass Frauen und Kinder dabei waren:
Von drei der Abgeschobenen fehlt seit dem Bombenanschlag vom 5.9. in Kabul jede Spur, auch über eine Woche danach gibt es keinen Handy-Kontakt…
Der Krieg in Kabul verhinderte auch den Friedensschluss in Doha, wo US-Unterhändler und Taleban ein Abkommen über den Abzug der US-Truppen schon fast in trockenen Tüchern hatte. Genauer gesagt wurden die Verhandlungen durch ein Tweet von Donald Trump beendet, ausgelöst durch den Anschlag, bei dem ein US-Soldat umkam (s. oben). Tausende von Toten hindern die USA nicht an Verhandlungen mit der Taleban – solange kein US-Soldat dabei ist. „Was mich anbelangt, sind sie tot“ sagte Trump und bezog das auf die Friedensgespräche – aber der Spruch wird leider auch für noch mehr afghanische Menschen Wirklichkeit werden. Auch wenn das Abkommen keinen Waffenstillstand in Afghanistan vorsah, wird der Abbruch der Verhandlungen zu noch mehr Gewalt führen.
Was können die von Abschiebung bedrohten oder gar zwangsweise „rückgeführten“ Menschen tun, um sich vor diesem Inferno zu schützen?
Am besten ist natürlich Vorbeugung – eine Ausbildungsduldung schützt für fünf Jahre vor Abschiebung. Um so eine Duldung zu kriegen, braucht es oft nur einen energischen Chef, gute Pressearbeit und die Unterstützung von zwei CSU-Landtagsabgeordneten…
Zynismus beiseite: Toll, dass das geklappt hat! Glückwunsch und alles Gute.
Wer durch Terror und Flucht krank geworden ist, ist oft nicht zu einer Ausbildung in der Lage und kann auch schlecht selbst Hilfe holen. Hier sind die Betreuenden gefragt, rechtzeitig fachärztliche Unterstützung zu vermitteln und (nach Absprache mit dem Betroffenen) dort Beobachtungen mitzuteilen, die diagnostisch wichtig sind: Sozialer Rückzug, Ausraster, Schlafstörungen, ständige Schmerzen, (auto)aggressives Verhalten usw.
Auch kurz vor der Abschiebung geht noch einiges: Die Flüchtlingsräte, aber auch gut vernetzte kirchliche Kreise können manchmal noch Wunder bewirken. Kontakt:
Stephan Theo Reichel
Kurator und Geschäftsführer
matteo – Kirche und Asyl e.V.
Verein mit Gemeinnützigkeit
Beauftragter für Flüchtlingsarbeit der Evangelischen Brüder-Unität – Herrnhuter Brüdergemeine für Deutschland und die Niederlande
Mobil: 0151 25 29 44 34
E-Mail: stephan.reichel@matteo-asyl.de
Doch was können Menschen tun wie K., die sich plötzlich allein in Kabul wiederfinden?
https://abschiebung-nach-afghanistan.de/
Ein wenig Hilfe kommt von AMASO https://amasosite.wordpress.com/ – in Einzelfällen kann auch hier eine kirchliche Gruppe helfen (Kontakt über mich: t.nowotny@onlinehome.de
Die allermeisten müssen allein zurechtkommen und suchen ihr Heil so schnell wie möglich in der erneuten Flucht. Mit der Verschärfung der Lage im Iran wird das allerdings immer schwieriger.
Es gibt auch vereinzelt Erfolgsberichte von Abgeschobenen, die es nach Deutschland zurück schafften – wie Marof Khil, einer von „Seehofers 69“, der einen Ausbildungsvertrag abschließen konnte:
https://www.sueddeutsche.de/bayern/bayern-fluechtlinge-seehofer-abschiebung-1.4587414
Die Lösung des Dilemmas haben wir schon im Dezember 2016 formuliert:
KEINE ABSCHIEBUNGEN NACH AFGHANISTAN!
Diese Petition hat jetzt über 97.000 Unterschriften online und viele hundert auf Papier. Noch vor Jahresende werden die 100.000 erreicht, wenn alle die Petition weiter so engagiert teilen und unterschreiben. Dann werde ich noch einmal vor das Bundeskanzleramt gehen und weiter Druck machen!
Foto AP

