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Afghanistan: Abgeschobene in der Klemme
Seit 2016 wurden fast 600 Afghanen per Sammelabschiebung aus Deutschland in ihre Heimat geflogen. Vor Ort erhalten sie 150 Euro, bevor sie sich selbst überlassen werden. Experten halten das für unverantwortbar.
Am Kabuler Flughafen entlassen europäische Staaten Flüchtlinge in eine ungewisse Zukunft (Archivbild)
Ein paar Stunden Autofahrt liegen zwischen der afghanischen Hauptstadt Kabul und der weiter südlich gelegenen Stadt Gasni. Ein paar Stunden lagen an diesem Mittwoch auch zwischen der Landung eines Abschiebeflugs nach Kabul und einem Autobomben-Anschlag in Gasni mit mindestens vier Toten.
Es ist nur die jüngste aus einer Reihe ähnlicher Meldungen. In diesem Monat hat die DW schon von mehreren Fällen von Mord, Gewalt und Terror in Afghanistan berichtet. Ein UN-Bericht vermeldete 561 tote Zivilisten von Januar bis März. „Der Aufenthalt in weiten Teilen des Landes bleibt gefährlich“, heißt es in den Reisewarnungen des Auswärtigen Amts – trotzdem hat Deutschland nun wieder 26 Afghanen dorthin abgeschoben. In nunmehr 24 Sammelabschiebungen wurden seit Dezember 2016 bislang fast 600 abgelehnte afghanische Asylbewerber ausgeflogen, teilweise unter Einsatz von Gewalt. Vor Ort werden die Menschen meist in eine ungewisse Zukunft entlassen.
Sicherheit von der Botschaft aus betrachtet
„Die EU-Staaten kümmern sich nicht um den Schutz derer, die sie abschieben“, sagt Samira Hamidi. Die Afghanin beschäftigt sich im Südostasien-Büro von Amnesty International (AI) in Colombo schwerpunktmäßig mit ihrem Heimatland. Der DW erklärt sie: „Es gibt keine Nachsorge – weder von der afghanischen Regierung noch von europäischen Ländern, die die Lage im Land als sicher genug betrachten, um abzuschieben, sich aber selbst nicht aus ihren geschützten Botschaftsvierteln heraustrauen.“ Nach einem Anschlag in Kabul vor zwei Jahren mit mehr als 150 Toten, bei dem auch die deutsche Botschaft schwer beschädigt wurde, verhängte die Bundesregierung zwar zwischenzeitlich ein Teil-Moratorium. Inzwischen werden Afghanen jedoch wieder mit voller Härte abgeschoben.
„Heute zum Beispiel gab es in der ganzen Stadt eine Ausgangssperre, ich war echt besorgt um die Abgeschobenen“, berichtet Abdul Ghafoor der DW. Eine Woche sei es her, da hätten Österreich und Schweden in letzter Minute einen Abschiebeflug wegen einer Ausgangssperre abgeblasen. Ghafoor leitet die Nichtregierungsorganisation „Afghanistan Migrants Advice and Support Organization“ (AMASO) in Kabul. Nach seiner Einschätzung versuchten viele Abgeschobene, so schnell wie möglich wieder außer Landes zu kommen. „Ich habe neulich erst wieder mit vier oder fünf gesprochen, die aus Deutschland abgeschoben wurden, und die jetzt in Griechenland sind, unter sehr schlechten Bedingungen.“
Schwieriger Wiederanfang für Rückkehrer
Afghanistan hat sich gegenüber den EU-Staaten verpflichtet, bei Abschiebungen eigener Staatsbürger zu kooperieren und erhält im Gegenzug dafür Entwicklungs- und Strukturhilfen. Früher habe die Internationale Organisation für Migration (IOM) abgeschobene Afghanen die ersten beiden Wochen in Hotels untergebracht, sagte Ghafoor. Inzwischen erhielten sie nur noch ein Startgeld von 167 US-Dollar (rund 150 Euro). In Afghanistan sind Hotels wegen der schwierigen Sicherheitslage sehr teuer, sodass die Ankommenden darauf bauen müssen, bei Verwandten, Freunden oder Bekannten unterzukommen. Deutschland stellt zusätzlich noch eine einmalige Wiedereingliederungshilfe von 700 Euro in Aussicht – laut Ghafoor ist diese jedoch mit erheblichem bürokratischen Aufwand verbunden.
Neben der Sicherheitslage ist es die verheerende wirtschaftliche Situation, die Ankommen in Kabul schwer macht. „Keiner der Abgeschobenen, mit dem ich gesprochen habe, hat einen Job gefunden, keiner konnte in der Stadt sesshaft werden“, berichtet Samira Hamidi von AI. Allerdings seien Europa-Rückkehrer einer zusätzlichen Gefahr ausgesetzt: „Es gibt das Vorurteil, dass sie viel Geld hätten, weil sie im Ausland gelebt haben“, sagt Hamidi.
Viele Flüchtlinge stammen nicht unmittelbar aus Kabul, sondern aus anderen Provinzen. Auch dorthin zurückzukehren, kann eine große Gefahr für die Menschen selbst, aber auch ihre daheim gebliebenen Familien bedeuten, erklärt Hamidi und erzählt von einem ehemaligen Regierungsbeamten, der in seine Provinz zurückkehren musste, dort aus Angst vor regierungsfeindlichen Verfolgern jedoch versteckt und ohne Kontakt zu seiner Familie lebt. „Niemand weiß, dass er zurück ist, und er erregt so wenig Aufmerksamkeit wie möglich, damit seine Familie keinen Bedrohungen ausgesetzt ist.“
Unverantwortliche Abschiebungen
Nach Ansicht von AMASO-Gründer Ghafoor, der 2013 selbst aus Norwegen abgeschoben wurde, hat sich die Sicherheitslage in den vergangenen Jahren weiter deutlich verschlechtert. Deshalb gebe es keine Möglichkeit, verantwortungsvoll nach Afghanistan abzuschieben. Das liege einerseits an den Taliban, die zwar mit der afghanischen Regierung Friedensverhandlungen führten, „aber gleichzeitig Selbstmordanschläge durchführen und Dutzende Zivilisten töten.“ Auf der anderen Seite nennt Ghafoor die Terrormiliz IS, „die gefährlicher und brutaler ist als die Taliban – vielleicht sind die Taliban also gerade nicht einmal die größte Herausforderung.“
Der sogenannte Islamische Staat (IS) gewinne in Afghanistan zunehmend an Einfluss, beklagt sich AI-Mitarbeiterin Hamidi: „Ich sehe überhaupt kein Interesse bei der internationalen Gemeinschaft, die USA eingeschlossen, sich dieses Problems anzunehmen.“ Die Terrormiliz sei ein großes Problem für Sicherheit und Frieden im Land: „Afghanistan ist gerade nicht in der Lage, Menschen aufzunehmen, weil die Regierung nicht die Sicherheit der Bewohner gewährleisten kann.“
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Autorin/Autor David Ehl